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Der seltsame Schleifentisch

„Sicher ist, dass nichts sicher ist. Selbst das nicht.“   Fast jeder, der das liest, denkt kurz: Was nun? Lustig oder ärgerlich findet er diese Wortkonstruktion. Und wendet sich rasch wieder seinem Alltag zu. Nicht so Thorsten Kandler. Für ihn ist er der Beginn eines Abgrunds. Der 39-jährige Chemiker und Betreiber eines Kinos, tragischer Held mit Neigung zum Grübeln und zwanghaftem Denken lernt zufällig das Phänomen der Seltsamen Schleifen kennen –  paradoxe Denkfiguren, in denen Anfang und Ende ineinander übergehen. Zunächst begeistert und dann besessen ordnet er es in das System seiner Zwänge ein und macht es zum Lebensprojekt. Er ist fasziniert vom Selbstbezüglichen, vom Unergründlichen im Denken. Und beherrscht von der Idee, die Menschen von den Vorteilen und Gefahren „Seltsamer Schleifen" zu überzeugen. Deren Geheimnis soll gelüftet werden, um das menschliche Zusammenleben zu erleichtern und um am Ende sogar eine Weltformel zu aufzuspüren.

Angetrieben von Streben nach Erkenntnis und Weltverbesserung vernachlässigt er seine Familie, trägt indirekt zum Tod seines Sohnes bei. Sein Fanatismus führt zu moralischen Konflikten mit den Mitstreitern, zu Gewalt, zum Bruch seiner Ehe und tragischem Scheitern. Seine Werthaltungen weichen auf. Kriminelle Episoden münden in Resignation und in den kuriosen Tod in einer Seltsamen Schleife. Was als intellektuelles Vorhaben beginnt, endet im Exitus. 

Hat ein Tunnelblick auf Paradoxes ihm die Sicht auf Wesentliches versperrt?

Warum wurde sein Streben nach Erkenntnis zu einer zerstörerischen Kraft?

Leserinnen und Leser erleben in einem spannenden Roman hautnah, wie eine Obsession zur Mission in Endlosschleife wird, wie unkontrolliertes Streben in Wahn übergehen kann und wie Sinnsuche in Selbstverlust abgleiten kann.

Damit wird das Buch mehr als das Psychogramm eines Einzelnen. Es ist eine Parabel unserer Gegenwart: Kennen wir nicht alle die Kreisläufe, die sich endlos drehen? Denken wir nur an die sich selbst widerlegenden Debatten in Politik und Medien oder an gegen sich selbst ermittelnde Institutionen. Auch die Vielfalt sich selbst erfüllende Prophezeiungen bei der Entstehung von Vorurteilen und Feindseligkeiten oder auch von Bankenpleiten gehört hierher. Und was ist mit dem ewigen Zyklus von Insuffizienz-Annahmen und Streben nach Selbstoptimierung?

Tobias Kandler ist in seiner Besessenheit extrem, doch er hält uns einen Spiegel vor. Ein Anstoß zur Selbstreflexion und zu kritischem Nachdenken.

Sicher ist nur: Ganz sicher ist nichts.



Das Leben in seltsamen Schleifen

Im Buch “Der seltsame Schleifentisch” tauchen immer wieder Seltsame Schleifen auf. Tobias Kandler stolpert über sie, löst sie aus, sucht sie besessen, aber mit Erfolg. Und wir merken dabei, sie sind tatsächlich ein seltsames Phänomen. Sie umgeben uns in der Kultur, in der Kunst, in der Sprache, in der Politik, im Zwischenmenschlichen, in uns selbst – kurz im Alltag in all seinen Facetten. Es gibt nicht viele Dinge, die so universell aufzufinden sind. ZumTeil bemerken wir sie nicht, zum Teil sind sie selbstverständlich, aber nicht als seltsam entdeckt.

 

Eingeführt wurde der Begriff von Douglas Hofstadter. Er hat ein Buch geschrieben mit dem Namen „Gödel Escher Bach - ein Endloses Geflochtenes Band“ (DTV/Klett-Cotta, 2008). Die Namen im Buchtitel weisen darauf hin, dass Seltsame Schleifen in der Sprache, in der Malerei wie auch in der Musik ihren Platz haben. Auf Sprache und Alltag gehen wir hier ein. M. C. Escher, ein flämischer Grafiker, hat die Seltsamen Schleifen zeichnerisch umgesetzt. J. S. Bach hat in Kompositionen auch Seltsame Schleifen strukturiert („Musikalische Opfer“ als Fuge aus Fugen).

 

Hauptmerkmale von Seltsamen Schleifen sind Selbstbezüglichkeit und Endlosigkeit. Eine Sache bildet den Ausgangspunkt und ist am Ende wiederum selbst betroffen.

Nehmen wir das Lügner-Paradox: Ich lüge gerade. Wenn ich lügend sage, dass ich lüge, lüge ich oder sage ich Wahres?

Oder auch: Diese Aussage ist falsch.  Ein scheinbar harmloser Satz. Aber: Wenn der Satz zutrifft, ist das, was er aussagt falsch. Ist er falsch, muss er richtig sein. Und so weiter. 

Der Logik wird eine Schlinge gedreht, in der man sich verfängt: Versucht man den Satz für wahr zu halten, wird man sich schnell sicher, dass er ja falsch sein muss. Scheinbar eine Insel der Gewissheit. Hat man sich dazu durchgerungen, drängt sich der Gedanke auf, dass er wahr sein muss. Eine zweite Gewissheit wird aus den Angeln gehoben. Ein unauflöslicher Widerspruch lässt einen desorientiert und mit Schwindelgefühl in einer Sackgasse zurück. Man bleibt in einer Seltsamen Schleife hängen.

Tobias Kandler begegnet in dem Buch “Der seltsame Schleifentisch” einer Reihe von ähnlichen Beispielen, die alle am Haken der Selbstbezüglichkeit hängen. Hier eine Auswahl:


Wie können wir mit diesem Phänomen umgehen?

Diese Frage ist angemessen. Seltsame Schleifen haben schon viel Verzweiflung und Selbstzweifel erzeugt. Mathematiker fürchten sie. Dichter sahen in ihnen ein Mittel, um die Wahrheit über die Liebe zu erfahren. Für Tobias Kandler boten sie die Chance, eine Weltformel zu entwickeln. 

Von guter Manier wäre zu akzeptieren, dass solche Aussagen paradox sind und keine eindeutige Lösung erlauben, zu bewundern, dass die klassische Logik Grenzen hat und Aussagen nicht entweder wahr oder falsch sein müssen oder beides gleichzeitig sein können. Guter Stil wäre auch, Seltsame Schleifen als Denkanstöße zu nutzen, als Anreiz, sich dem Zauber kreativen Denkens und Handelns hinzugeben. 

Denk nach ob das Selbst eine Seltsame Schleife ist. Schließlich entsteht es in dem Augenblick, in dem es fähig ist, sich selbst zu reflektieren. Oder: Das Nervensystem erschafft ein Modell seiner selbst, das wiederum dieses Modell wahrnimmt, beurteilt und verändert. Das Selbstbewusstsein arbeitet.


Empfehlung: Spüre Seltsame Schleifen in Deinem Leben und im Alltag und Du wirst Spaß haben!

Zeichnen in Seltsamen Schleifen

Faszinierend ist die zeichnerische Umsetzung von Seltsamen Schleifen. Am bekanntesten sind die Kreationen des flämischen Grafikers M. C. Escher (wer dazu lesen mag: Ernst, B. C.: Der Zauberspiegel des M. C. Escher. Taschen Verlag 2007).

 

Wenn die Lizenz erteilt wird, dann hier das Bild Treppauf und Treppab einfügen.

 

Inzwischen sind viele Varianten entwickelt worden, die eins gemeinsam haben: Die Figuren sind unmöglich, sie können nicht existieren. Aber wir sehen sie. Wir müssen akzeptieren, dass es etwas gibt, dass es aber in unserer Lebenspraxis nicht geben kann. Das bleibt so, obwohl inzwischen viel dazu geschrieben und geforscht wurde.


Zeiten in Seltsamen Schleifen

Der Alltag streckt sich über die Zeit, d. h. über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Es wäre doch seltsam, würde das nicht in Schleifen verlaufen, natürlich in Seltsamen Schleifen. Der Philosoph Safranski hat es für uns aufgefaltet (Safranski, R.: „Zeit“, Fischer 2018).

Kredite und Schulden, wie sie derzeit großzügig in das System gepumpt werden, sind Erwartungen in die Zukunft, die damit jetzt schon verbraucht wird.

Bei der Umweltzerstörung passiert dasselbe. All das hinterlässt den nächsten Generationen offene Rechnungen und giftigen Müll. Dadurch werden Risiken aufgebaut. Sünden in der Vergangenheit bauen Gefahren in der Zukunft auf, die auf die Gegenwart zurückwirken.


Risiken müssen abgeschätzt und gehandhabt werden. Und schon hat man es mit der Zukunft zu tun und mit der Erkenntnis, dass sie Ergebnis gegenwärtigen Handelns ist. Mit den Risiken kommt die Zukunft der Gegenwart nahe wie noch nie. Safranski kommentiert das mit den Worten: „Auf dem Umweg über die Risiken kommt die Zukunft in der Gegenwart an“ (S. 120). Und es entsteht damit die Frage, „ob man sich eine solche Zukunft überhaupt leisten kann und ob sie noch verantwortbar ist“ (S. 84).

Der Selbstoptimierungswahn als Schleife

Wo fängt man an in dieser Schleife? Vielleicht damit, dass immer mehr Kalorienzähler,  Schrittzähler, Fitness-Tracker, Meditationstracker, Habit-Tracking-Tools, fitbit-Armbänder reißenden Absatz finden. Uhren sind Mode, die wissen, wann man trinken muss oder laufen soll. Aufseher namens Siri oder Alexa regeln das Verhalten. Hilfsmittel sind begehrt, mit denen man messen, vergleichen und bewerten kann, egal ob es um Ernährung, Gesundheit, Leistung oder Aussehen geht.

 

Ziel all dessen ist, den menschlichen Körper, das menschliche Handeln, die menschliche Existenz im Ganzen zu verbessern.

Mit dem Eifer von Selbstoptimierung behandeln wir uns wie ein Projekt zur Korrektur einer unfertigen Rohfassung. Als ob mit diversen Selbstoptimierungswerkzeugen eine Baustelle vorangetrieben wird.


Das kann aber nicht gelingen. Wer immer eine bessere Version seiner selbst anstrebt, geht ja davon aus, die jetzige Version sei unzureichend. Damit verschiebt sich das Ziel ständig. Selbstoptimalisierung führt zur Überzeugung von der eigenen Unzulänglichkeit. Das löst wiederum die Suche nach immer neuen Möglichkeiten der Selbstoptimalisierung aus. Die neuen Technologien erweisen sich dabei als sehr „hilfreich“.

Der Kult der Verbesserung mündet in einem Kreislauf aus Trackern und Tools.

Und es fällt nicht auf, dass Selbstoptimierung schließlich weniger Bezug zum Selbst und mehr zur Optimierung hat.

Je mehr Menschen sich daran beteiligen, umso mehr wird dies für unbedenklich, normal und gar logisch gehalten. Das Ergebnis ist: Sich selbst optimierender Selbstoptimierungswahn.


Epidemiologische Schleifen

Die Häufigkeit psychischer Störungen ist in den letzten Jahren gestiegen.

Die Belegung psychiatrischer und psychosomatischer Betten ist gestiegen. Krankenkassen verzeichnen einen kontinuierlichen Anstieg des Anteils von psychischen Störungen. Die dadurch ausgelösten Krankheitstage haben sich vervielfacht. Psychische Störungen sind mittlerweile die zweithäufigste Begründung für Arbeitsunfähigkeit und die häufigste Ursache für krankheitsbedingte Erwerbsminderung 

Aus: „Ein epidemiologisches Paradox? Warum sinkt die Häufigkeit psychischer Störungen trotz vermehrter Behandlungsangebote nicht?“ Artikel in: Report Psychologie 4/2019, S. 2 ff.

 

Seltsame Schleife 1: Die Anzahl der Bedürftigen steigt. Das bedeutet erhöhten Zulauf auf Behandler (Psychologen, Psychiater und Allgemeinmediziner). Bei Behandlern besteht aber eine mehrmonatige Wartezeit sowohl ambulant als auch stationär (obwohl sich die Anzahl von Psychotherapeuten deutlich erhöht hat). Das hat mangelnde Versorgung psychischer Störungen und Krankheiten zur Folge. Dadurch verschlimmert sich der Zustand. Der Bedarf erhöht sich. Wenn Behandlungswillige abgeschreckt werden, erhöht sich die Behandlungsbedürftigkeit und damit die Zahl der dringend Behandlungsbedürftigen. Die Versorgungssysteme werden überlastet.

Das bedeutet: Die Zunahme der Störungen beflügelt sich in der Behandlungslage aus sich selbst heraus.

 

Seltsame Schleife 2: Die steigenden Diagnosezahlen psychischer Störungen in den Krankenkassendaten werden auch interpretiert als Resultat einer verstärkten Aufmerksamkeit auf psychische Gesundheit in Medien und einer Psychologisierung menschlicher Lebenswirklichkeit. Die größere Aufmerksamkeit für psychische Störungen und Krankheiten führt zu verstärkter Forschung und zur Ausweitung von Klassifikationssystemen. Immer mehr Diagnosen werden erfunden. Das führt zu erhöhter Sensibilität (incl. Übersensibilisierung) auf Seiten der Behandler wie auch der Patienten – und zu noch größerer Aufmerksamkeit.


Leseprobe

Bis auf die Langzeitstudentin Sonja Münder hatten alle genug beigesteuert, um einen Kleinbus zu chartern,  Mehr…

Bis auf die Langzeitstudentin Sonja Münder hatten alle genug beigesteuert, um einen Kleinbus zu chartern, an dem alle pünktlich 10 Uhr erschienen. Sie waren aufgedreht und schwatzten durcheinander. Irina Wendler erhielt Applaus, weil sie eine Gitarre mitgebracht hatte. 

Nach vierzig Minuten Fahrt stiegen sie vor der Gaststätte „Jägerklause“ am Rande des Waldgebietes aus.  Hier sollte später ein Abschlussessen stattfinden. 

„Rein in einen sonnigen Samstag“, rief Kandler. Schon nach zehn Minuten waren sie von Wald umgeben, der rechts und links auf beträchtlichen Anhöhen stand. In der Mitte mäanderte ein Flies von unterschiedlicher Breite. Die angenehmen Junitemperaturen und die frische Waldluft sorgten zunächst für Stille beim Laufen. Erst allmählich übertönten die Gespräche das Vogelgezwitscher.

Fernkorn, der als ortskundig galt, ging voraus. Absolut typwidrig mit einer hellblauen Ballonseidenjacke und grellgelben Jeans bekleidet, bot er einen skurrilen Anblick, wohl von ihm beabsichtigt. Nach fünfzig Minuten signalisierte er einen Halt und steuerte auf einen Reisighaufen rechts vom Wege zu. Er schob die Zweige beiseite und gab den Blick frei auf einen kleinen Berg von Bierflaschen, zwei Weinflaschen, einen Stapel Plastikbecher und eine Schachtel Kekse. Verblüfft blickten die Schleifen-Jünger abwechselnd auf den Haufen und auf Fernkorn. Er klärte auf. Am Vortage war er mit Karsten Ballin mit dem Auto in die Nähe gefahren und hatte den „Treibstoff“ deponiert. 

„So ein Netter“, säuselte Irina Wendler. Vergnügtes Konsumieren und munterer Smalltalk setzten ein und gingen allmählich in feuchtfröhliches Geplauder über. 

Ballin nervte, weil er jede Vogelstimme identifizieren und alle Vögel beim Namen nennen wollte. Er benutzte dazu eine App und alle mussten auf das Ergebnis warten.

Nach vierzig Minuten Fußmarsch endete der Weg an einer Straße mit Kopfsteinpflaster. Sie war als alte Heerstraße ausgewiesen. Das Flies unterquerte diese Straße und setzte sich in unpassierbarem Dickicht fort. Auf dem unregelmäßigen Straßenbelag ließ das Marschtempo nach. Schon nach zwei Kilometern war ein lautes Geräusch zu hören.

„Der Wald, ein Ort der Stille“, höhnte Schneider.

„Presslufthammer?“, fragte Kandler.     

 „Am Samstag? Glaube ich nicht“, widersprach Münder.

„Natürlich Presslufthämmer, sogar mehrere“, informierte Schneider. Und so war es auch. An der Quelle des Lärms angekommen, liefen sie auf eine Brücke. Links dichter Wald, rechts ein kleiner Abgrund, eine Baustelle. Schaufeln und Schubkarren lagen umher. Ein Bagger stand abseits, gelb-schwarz, an den gelben Stellen fielen die Rostflecken besonders auf, die aussahen, als ob sie Blasen bilden. Zwei Bauarbeiter stemmten mit Presslufthämmern ein Betonfundament auf. 

„Der Rest einer Kneipe“, mutmaßte Börner. 

„Eher eine Wetterstation“, hielt Schneider dagegen. 

„Alles Unsinn. Eine simple Betonplatte. Mehr war da nie“, rief Damm und winkte ab. 

Es schien, als ob die Natur hier längst sich selbst überlassen war. Viele Bäume waren umgeknickt. Die Baumkronen bildeten nur stellenweise ein dichtes Blätterdach, das zarte Sonnenstrahlen hindurchließ. Teilweise hatte man Ausblick auf die sanften Hügel der Umgebung, die ein malerisches Panorama bildeten.

Vor dem Absturz in den Abgrund schützte ein Eisengeländer mit viel Rost, einige Querstäbe fehlten. Von unten dröhnte es in Abständen ohrenbetäubend gegen die Ruhe des Waldes und erzeugte eine schrille Kollision zwischen Natur und Technik.

Kandler hatte auf der Brücke gewartet bis alle aufschlossen. Dann sprach er in eine Lärmpause hinein zu allen. Er wies auf den Wald und pries dessen Schönheit. Schönheit sei ein gemeinsames Merkmal von Natur und menschlichem Denken. Und da war er geradewegs bei den Seltsamen Schleifen. Er unterbrach seine Rede auch nicht, als die Presslufthämmer wieder einsetzten. Mit dem Rücken an das Brückengeländer gelehnt, gestikulierte er ausladend mit beiden Armen. Die Worte flossen in Wellen von seinen Lippen. Wenn er einzelne Worte betonte, schnellte sein Körper nach vorn. Da die beiden Presslufthämmer nicht immer gleichzeitig liefen, war er manchmal bruchstückhaft zu verstehen. Seine Lautstärke blieb aber  von den Lärmquellen unbeeinflusst, er schien sie nicht zu hören.

„Aber wir, die wir die Bedeutung Seltsamer Schleifen erkannt haben, wissen: Sie sind ein Kern rationalen Denkens. Und rationales Denken ist das Fundament der Moderne. Üble, unverbesserliche Zeitgenossen nennen uns vielleicht naiv. Aber Naivität steht oft am Beginn von Großem. Schon Schiller hat gesagt, jedes wahre Genie müsse naiv sein. Die Welt stünde still ohne die, die weiter denken. Das Paradoxe ist unbequem und beschwerlich, aber es ist der Weg zu größeren Horizonten und Zusammenhängen.“

Er proklamierte seine Worte in das alles tilgende Rattern hinein, selbstverständlich auch die über den Zusammenhang zwischen arktischer Eisschmelze, Sonnenstrahlung und Erderwärmung. Ob man ihn verstand, schien ihm egal zu sein. Wechselnd blickte er die Umstehenden fest an, die sich so zu Aufmerksamkeit veranlasst sahen. Die meisten betrachteten ihn neugierig und bewunderten, wie tapfer und heroisch er seine Mission durchzog. Aber sie waren auch zuversichtlich, er würde sein vertanes Bemühen, seine ungünstig platzierte Predigt bald beenden. Mehrmals gesellten sich kleinere Gruppen von Wanderern oder Paare zu den Umstehenden. Einige versuchten interessiert, seine Worte zu verstehen, andere verweilten nur kurz und machten einen ratlosen Eindruck. Bei vereinzeltem Beifall blieb unklar, ob er ernst gemeint war. Damm lehnte sich über das Geländer und schaute hinunter zu den Lärmquellen, als ob er lieber dort wäre. Schneider und Oeser standen abseits und warfen sich Blicke zu.  Als die Werkzeuge im Abgrund kurz verstummten, verkündete Kandler mit Inbrunst, dass Seltsame Schleifen unser Fühlen, Denken und Handeln erweitern und unsere Intelligenz steigern. Beifall war zu hören, verhalten nur und knapp, wohl mehr für seine Emphase als für seine Botschaft.

Übergangslos veränderte sich sein Zustand. Der Körper entspannte sich, die Arme lagen schlaff auf dem Brückengeländer, die Augen waren geschlossen. Der Höhepunkt des Rausches war überschritten. Er lächelte wie jemand, der sein höchstes Ziel erreicht hat. Wie von sich selbst fasziniert, blickte er nach oben. Von seiner Umgebung schien er nichts mehr wahrzunehmen. Mit beiden Händen stützte er sich am Geländer ab, atmete tief ein und aus und schloss die Augen. Plötzlich schien es ihm selbstverständlich: Egal wie diese Situation endet, egal wie lange es dauert, ehe alle von seinen Ideen überzeugt sind, allein wichtig ist: Ich weiß es genau. Und so will ich sein. 

Fernkorn ging ruhig auf Kandler zu und nahm ihn an der Hand. Dieser ließ sich – wie langsam erwachend – vom Geländer wegführen. Alle folgten Schneider und Oeser. So begann der Rückweg ohne erkennbares Signal. Die Kraft der Mittagssonne ließ bereits nach.

 

Weniger…